Was ist eine Tätlichkeit?
Nach dem Ausfall unseres Kapitäns bei der Weltmeisterschaft in Südafrika durch das rüde Foul von Kevin-Prince Boateng, zerschlägt man sich bei uns die Köpfe darüber, was nun ein Foul oder eine Tätlichkeit ist und wann die "Gelbe oder Rote Karte" gezogen werden muss. Von den vielen Berichten, die ich darüber gelesen habe, ist der nachstehende für mich der beste.
Vor jeder Fußball-WM tritt wieder das Dichterwort des alten Ringelnatz in Kraft: "Ich kenne wen, der litt akut an Fußballwahn und Fußballwut". Die deutsche Wut ist diesmal besonders groß. Geradezu explodiert ist sie diese Woche, denn es sind zwei Dinge zusammengefallen, die in ihrer Kombination selbst vom gutmütigsten Fan nur schwer zu ertragen sind. Zum einen hat in Lausanne der oberste Sportgerichtshof getagt, in Form diverser Schweizer, die sich nicht dem Verdacht aussetzten, übertrieben deutschfreundlich zu sein. Jedenfalls haben sie dem Fußballverband UEFA bestätigt, dass der Münchner Ballzauberer Franck Ribery als potenzieller Knochenbrecher für drei Spiele weggesperrt gehört und man die Sensibelchen von Inter Mailand am Samstag im Champions-League-Finale vor dem Raubein schützen muss.
Bis hierher hätte es ja die kochende Volksseele noch ausgehalten – aber das WM-Aus von Michael Ballack lässt uns vollends den Deckel vom Kessel fliegen. Wenn Ballack wegen Schuppenflechte hätte absagen müssen, wäre alles nur halb so schlimm. Aber der Kapitän ist von Bord getreten worden vom Gewalttäter Boateng und jeder vaterlandsbetonte Deutsche ist jetzt beschäftigt mit dem Abrufen der kompletten Gefühlspalette, von der Verzweiflung bis zum zügellosen Volkszorn. Im Internet gehen die Gefühle Gassi. Die Militanten unter den Rassisten fordern Boatengs sofortige Zwangsunterbringung in einer Lehmhütte in Ghana, bei Haferschleim und Hirsenbrei.
"Dieses Foul war eine Sauerei" haben wir sogar den TV-Experten Mehmet Scholl, einen Vertreter der eher gemäßigten Wortmeldung, sagen hören, "und Boateng gehört so lange gesperrt, wie Ballack ausfällt". Die Fachwelt ist sich einig: Kevin-Prince Boateng hat sich aufgeführt wie ein Stier, der rot sieht. Was hat ihn schäumen lassen? Ist es der unerfüllt gebliebene Traum des Jungen aus Berlin-Wedding, der ein deutscher Held werden wollte, in Fortsetzung der Familientradition? Sein Opa mütterlicherseits war der Cousin von Helmut ("Boss") Rahn, des Berner WM-Helden von 54, fast alle DFB-Jugendteams hat Boateng durchlaufen, aber an der Tür zur Nationalmannschaft haben ihn die Ballacks und Löws abgewiesen.
War das eine Rache? Wollte er seiner Zweitheimat Ghana, mit der er bei der WM auf die Deutschen trifft einen Gefallen tun? War es der Frust, dass sein Bruder sich den Traum erfüllt hat und für Deutschland spielt? Jedenfalls hat Boateng durchgetreten. Und doch läuft er immer noch frei herum, denn er hat nur Gelb gekriegt – genauso gut hätte ihm der Schiedsrichter einen duftenden Strauß Gladiolen schenken können als Belohnung für diese widerwärtige Tätlichkeit. Aber was ist ein Tätlichkeit? Das ist die Frage in diesen Tagen – und man könnte den Ribery-Aburteilern der UEFA und des Sportgerichtshofs womöglich folgen, wenn nicht anlässlich der jüngsten Pokalendspiele in London und Berlin diese zwei fiesen, aber gnädig bestraften Fouls der Rowdys Boateng (gegen Ballack) und Frings (gegen Schweinsteiger) passiert wären.
Damit wir uns richtig verstehen: natürlich gehört Ribery für seine bekloppte Grobheit bestraft. Sein Einsteigen im ersten Halbfinale der Königsklasse gegen jenen Argentinier von Lyon war dämlich, dusslig und strohdumm. Aber bösartig, absichtlich, eine Tätlichkeit? Nein, sagt selbst der getroffene Argentinier. Ribery ist dem Mann nur auf dem Fuß gestanden, und der lief höchstens ein bisschen blau an – kurz Stehblues.
Außerdem schwört auch jene minderjährige Marokkanerin aus dem Pariser Rotlichtviertel: Wenn Ribery einsteigt, tut es nicht weh. Bei Boateng schon. Brüllend krümmt sich Ballack im Gras, im Rollstuhl hat man ihn durch die Katakomben geschoben, mit einer gewaltigen Schiene im rechten Fuß, die noch übrig war vom Neubau des Wembley-Stadions – damals haben sie noch bei der Betonierung die Stützpfeiler damit geschalt. Ballacks Sprunggelenk ist im Eimer. Ob darüber hinaus Boateng auch einen Bänderriss in der Birne hat, wissen wir nicht, weil er weitgehend schweigt. Womöglich ist er ja selbst erschrocken, man kennt so was von Charles Bronson ("Ein Mann sieht rot"), der hat einst verraten: "Ich schaue mir meine Filme nie an. Sie sind mir zu brutal". Wie dieses Foul..
Oder das von Torsten Frings im DFB-Pokalfinale gegen Bastian Schweinsteiger. Der Bayer hat viel Glück gehabt, denn böse hätte sie enden können, diese Frustattacke des alternden Bremers, die man sich höchstens mit dem Gedankengang erklären kann: Der Bayern-Sack darf zur WM und ich nicht, und dann versaut er mir auch noch den Pokalsamstag. Gewalttätig ist er jedenfalls geworden, der Frings, seine Bodengrätsche trug das Etikett der glatten Absicht, und eine Tätlichkeit (gegen das Regelbuch) war auf jeden Fall die Entscheidung des Schiedsrichters: Der hat Frings mit der Ampelkarte zum Duschen geschickt, das Foul als solches also nur mit Gelb bestraft. Gnade für Frings, Freiheit für Boateng. Ribery auf die Guillotine?
Fußball ist schon etwas Spezielles. Ungestraft verübt Boateng eine Tätlichkeit mit Körperverletzung, dafür wird Ribery für keine Tätlichkeit ohne Körperverletzung drei Köpfe kürzer gemacht. Man muss Uli Hoeneß nicht immer verstehen, aber seit der Bayern-Präsident eine italogelenkte Verschwörung der UEFA gegen den deutschen Fußball wittert, sind die Umfragen auf seiner Seite: Jeder gefühlte Zweite hält ihn reif für das Eiserne Kreuz mit Nahkampfspange. So kocht unsere Fußballseele. Es war einfach zu viel diese Woche. Erst wird uns der Ballack weggetreten – und dann schießen diese weggetretenen Schweizer vollends den Vogel und den Ribery ab – mit ihrer Tätlichkeit gegen den gesunden Menschenverstand.